Freitag, 26. Februar 2016

Lorelei und Marianne: Castres, den 27. Juli 1959


Lorelei und Marianne: Ein Leben zwischen Deutschland und Frankreich, mit fiktiven Briefen aus einer deutsch-französischen Familie, von den fünfziger Jahren bis 2016. Diese Reportage erscheint parallel auf meiner Blog-Seite in Le Monde, wo die es die Französischen Briefe gibt, siehe Links:

Zweiter Teil:

Castres, den 27. Juli 1959



Meine lieben Eltern!


Wie freue ich mich, Euch bald wiederzusehen! Und dazu noch mit meinen geliebten Geschwistern…Es wird ganz sicher eine schöne Zeit werden, und ich bemühe mich, dass alles perfekt wird für unsere Hochzeit!

Nun ist es ja so weit, dass ich bald definitiv in Frankreich leben werde…Yvan weiß, dass er seine erste Stelle in Reims bekommen wird, wir planen schon unsere erste gemeinsame Einrichtung, und langsam wird mir klar, dass Frankreich meine zweite Heimat sein wird…Ob ich das verkraften werde? Hier ist ja alles so verschieden als bei uns…Und besonders hier, auf dem Land - Castres ist ja wirklich ein Nest! – ist alles so anders als in Duisburg…


Bild 2016


Ihr werdet schon staunen, wie die Leute hier noch leben…Bei meinen zukünftigen Schwiegereltern gibt es zum Beispiel kein Bad, und auch keine Toilette…Ja, stellt Euch vor, es ist wie bei uns im Westerwald, als wir im Krieg evakuiert waren, da war ja auch alles so mittelalterlich…Glaubt jetzt bitte nicht, dass Yvans Eltern arm sind, im Gegenteil, sie besitzen mehrere Häuser, die sie vermieten; nur ist unser moderne Fortschritt  hier noch nicht zu spüren! Yvans Mutter besitzt auch keinen Kühlschrank, und natürlich gibt es auch keinen Fernseher! Ich musste also lernen, wie man sich im Becken mit kaltem Wasser aus einem Eimer wäscht, und ich bin sicher, dass Ihr das auch total romantisch finden werdet!


Das Haus, 2016

Aber dafür lebt es sich gut und bunt, die Leute sind meistens fröhlich, man trinkt und singt viel, und immer, ja, fast immer scheint diese wunderbare Sonne, in welche ich mich bei unserem ersten Treffen in Sète regelrecht „verknallt“ hatte, wie in Yvan! Ach, die südfranzösische Sonne, und diese Farben auf den Märkten, und die Düfte in den Gärten, es ist einfach herrlich…

Natürlich mache ich mir trotzdem Gedanken…Der Krieg wird leider noch viel zu oft erwähnt, manche Nachbarn haben Yvans Vater gefragt, warum sein Sohn eine „Boche“ heiraten will, und das haben sie einfach so gesagt, als würde ich nichts verstehen…Ich habe auch Angst, unsere ganze Duisburger Stimmung zu vermissen, die Freunde, das Theater, die schönen, lustigen Momente, die Ihr immer für uns Kinder organisiert habt…Aber so ist ja immer, wenn man heiratet, nicht wahr?

Yvan hat mir versprochen, dass wir oft nach Deutschland fahren würden, er hat ja viele Ferien als Lehrer. Und er meinte auch, Reims sei eine interessante Großstadt; wir könnten auch sehr oft nach Paris fahren, wo er noch viele Freunde hat, die uns empfangen würden.

Nun bin ich wirklich gespannt, wie es sich als junge Deutsche im Frankreich der fünfziger Jahre fühlen wird…Ich würde gerne arbeiten, ich könnte ja Englisch- oder Deutschkurse geben, oder als gelernte Schneiderin arbeiten, aber Yvan meint, dass ich auch sehr gut zu Hause bleiben könnte, besonders, wenn wir Kinder bekommen…Vielleicht wollte er mich nur heiraten, um eine perfekte deutsche „Hausfrau“ zu haben, was meint Ihr? Auf jeden Fall träume ich von einem raffinierten Französischen Alltag, mit häufigen Theater- und Restaurantbesuchen…

Wir freuen uns alle auf den neunten August!

Seid herzlich umarmt, auch von Yvan,

Eure kleine Gesche.

Erster Teil:

Dritter Teil :

Vierter Teil :

Fünfter Teil :





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